Frau Heinemann, das Wort „Stress“ hat in unserer Gesellschaft eine sehr negative Konnotation. Warum ist das Ihrer Meinung nach so?
Eigentlich sind es ja eher die Folgen von anhaltendem Stress, die uns belasten und die negativ wahrgenommen werden. Der Stress selbst ist zunächst einmal ein positives Gefühl. Er ist eine Reaktion unseres Körpers, wenn wir eine Situation als bedrohend oder herausfordernd empfinden – also, wenn wir gefordert sind, sehr wach und leistungsstark zu sein.
Wie genau reagiert unser Körper denn bei Stress?
Ursprünglich sind wir dafür gebaut, dass wir in bedrohlichen Situationen für den Kampf oder die Flucht bereit sein. Wenn ich unter Stress stehe, wird deshalb Adrenalin ausgeschüttet und sorgt dafür, dass ich sehr konzentriert und entscheidungsfreudig bin. Wird der Stress größer, kommt außerdem die Ausschüttung von Endorphinen hinzu, die uns wohlfühlen lassen. Für unsere Vorfahren war das nötig, um auf der Flucht mögliche Verletzungen oder die einsetzende Erschöpfung nicht wahrzunehmen. Auch heute noch reagiert unser Körper bei größeren Herausforderungen auf diese Weise – und das ist erstmal toll. In diesen Situationen macht Stress zunächst einmal glücklich.
„Stress macht glücklich“ ist auch der Titel Ihres jüngsten Buches. Wie reagieren denn Ihre teils sehr gestressten Klienten darauf?
Zunächst finden es manche meiner Teilnehmenden tatsächlich nicht so lustig. Aber wenn sie neugierig geworden sind, lesen sie weiter und merken, dass der Titel bewusst etwas provokant ist und es im Kern um etwas anderes geht: Immer völlig ausgeglichen und ausgewogen zu sein, ist auf Dauer auch langweilig. Wir wollen und brauchen die stressigen Spitzen und Hochleistungsphasen in unserem Leben.
Viele Menschen behaupten ja ohnehin, nur unter Stress und Druck arbeiten zu können. Und jeder von uns kennt die Situation, dass man in den fünf Minuten, bevor der Besuch kommt, mehr im Haushalt schafft als sonst im ganzen Monat.
Ja genau. Unter Stress haben wir eben eine besonders hohe Leistungsfähigkeit. Ich packe meinen Koffer zum Beispiel ganz bewusst immer auf den letzten Drücker, kurz bevor ich meinen Flug bekommen muss - weil ich dann sehr entscheidungsfreudig bin. Das ist in der angesprochenen Situation mit dem anstehenden Besuch ähnlich.
Wenn ich unter Stress stehe, habe ich keine Zweifel und ziehe das Ding durch. Ich hätte hier bei mir zuhause wohl auch nicht so viel Ordnung, wenn ich nicht so oft auf Reisen wäre und kurz vor dem Aufbruch noch so einiges regeln müsste. (lacht)